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Lebenswelt

Von Florian Prokop

Von vier Seiten elektrische Bahnen und Omnibusse, Wagen auf Wagen, ohne Pause; aus sechs, sieben Straßen Equipagen, Droschken, Automobile, Geschäftswagen, Fahrräder, kreuz und quer, in mühsam gemäßigter Hast; und dazwischen ein Gewimmel von Fußgängern, aus allen Richtungen kommend, in alle Richtungen strebend, reich und arm, Alt und Jung, Berlin in allen seinen Schichten, so beschrieb ein zeitgenössischer Beobachter das Treiben um den Potsdamer Platz.

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Wer um 1920 zum ersten Mal nach Berlin kam, wurde von der ungewohnte Dichte und Hektik des Verkehrs geradezu überwältigt. Neben der größten Gruppe der Industriearbeiter drängten auch Angehörige der bürgerlichen Mittelschichten in die Hauptstadt, da sie sich hier bessere Berufschancen erhofften. Die Assimilation der verschiedenen Herkünfte, Dialekte, Mentalitäten und die Synchronisation der unterschiedlichen Arbeits- und Lebensrhythmen zwangen Zuwanderer, sich dem Prozess einer ‚inneren Urbanisierung’ zu unterwerfen. Sie führte zu einer eigenen Großstadtidentität mit spezifischem Jargon.

Die Mietskasernen

Optisch und von den Grundrissen her waren die Mietskasernen bürgerlichen Wohnhäusern nachempfunden. Eine solche ‚Kaserne’ war heterogen bewohnt, vom Proletarier bis zum Kleinbürger reichte das Klassenspektrum. Das Vorderhaus mit seinen reichen Stuckverzierungen, repräsentativen Balkonen und großen Wohnungen bot den besser verdienenden Facharbeitern ausreichend Wohnraum. Dagegen waren die Hinterhäuser oftmals verfallen und abgewohnt. Sie boten Platz für viele Familien und beherbergten oftmals auch kleine Gewerbebetriebe.

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Wirtshäuser wurden zu Zentren der Kommunikation. Der Gang ins Wirtshaus war für Arbeiter ein kurzfristiger Ausstieg aus dem tristen Werkalltag. Besonders am Zahltag wurde das knappe Geld in die überfüllten Gasthäuser getragen. Vor allem waren es Männer, die sich dort trafen; sie waren überhaupt bessergestellt als Frauen. Sie hatten feste Arbeitszeiten, konnten es sich leisten, das Haus zu gesellschaftlichen Anlässen zu verlassen; Mithilfe im Haushalt war verpönt. Frauen waren zur Besorgung des Haushaltes an die Wohnung gebunden. Oftmals mussten Frauen noch Nebentätigkeiten annehmen, einen Feierabend gab es kaum. Optisch und von den Grundrissen her waren die Mietskasernen bürgerlichen Wohnhäusern nachempfunden. Eine solche ‚Kaserne’ war heterogen bewohnt, vom Proletarier bis zum Kleinbürger reichte das Klassenspektrum. Das Vorderhaus mit seinen reichen Stuckverzierungen, repräsentativen Balkonen und großen Wohnungen bot den besser verdienenden Facharbeitern ausreichend Wohnraum. Dagegen waren die Hinterhäuser oftmals verfallen und abgewohnt. Sie boten Platz für viele Familien und beherbergten oftmals auch kleine Gewerbebetriebe. Innerhalb der Wohngebäude gab es eine weitere sozial-räumliche Trennung nach Stockwerken, wobei hier die Wohnqualität vom ersten Stockwerk aufwärts und abwärts abnahm. Somit waren Keller- und Dachwohnungen die schlimmsten Behausungen einer Mietskaserne. Im Keller trockneten selbst im Sommer die nassen und von Schimmel befallenen Wände nicht aus, der muffige Modergeruch konnte durch die kleinen Fensteröffnungen kaum abziehen. Das beschwerliche Treppensteigen wurde besonders für alte Menschen zur Qual. Sie lebten wie Gefangene in den eigenen vier Wänden. Die in wenigen Monaten hochgezogenen Häuser mussten von den ersten Bewohnern gegen Mietnachlass erst ‚trockengewohnt’ werden, was die Gefahr von Krankheiten wie Tuberkulose mit sich brachte.

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Die Lebensreformbewegung

Wohn- und Arbeitsbedingungen führten bei vielen zum Protest. Reformbewegungen bekamen Zulauf. Unter Kritik gerieten die schwierigen sozialen Verhältnisse und die Zerstörung der Natur durch die immer großräumiger um sich greifenden Industrieanlagen. Ziel der Lebensreformbewegung war die Erneuerung des Menschen von innen heraus, um ihn von Zivilisationsschäden zu heilen. Bedeutenden Anteil hatte daneben der Natur- und Landschaftsschutz. Die Bewegung speiste sich aus Sorgen über den Verlust der Heimat durch Urbanisierung, durch die um sich greifende Zerstörung bisher unberührter Flächen. Die Reformer verschrieben sich dem Denkmalschutz, der Ortsbild- und der Brauchtumspflege. Gesuchte Naturnähe machte vor dem Menschen, dem eigenen Körper nicht Halt. Die sogenannte Freikörperkultur fand immer mehr Anhänger, insbesondere aus der finanziell abgesicherten Mittelschicht. Unbekleidet wurde Gymnastik betrieben, sonnengebadet und geschwommen. In den frühen Jahren der Lebensreform stand der junge, nackte Mensch für Freiheit des Individuums, Offenheit und Natürlichkeit.