Dadaismus und Berlin
Von Lukas Töpelmann
Richard Huelsenbeck wurde 1892 in Deutschland geboren. Er war Schriftsteller, Arzt und Psychoanalytiker. Nach seiner dadaistischen Schaffenszeit in den 1920er Jahren reiste er als Schiffsarzt und Journalist um die Welt. Er starb 1974 in der
Schweiz.
Hier ein fiktiver Brief an seinen Enkel.

Endlich konnten wir Künstler mit den Werten und Normen dieser heuchlerischen Gesellschaft brechen!
Der Erste Weltkrieg, dem ich mich durch meine Ausreise in die Schweiz habe entziehen können, war vorbei, aber die sinnlosen Normen und Konventionen – auch in der Kunst – galten nach wie vor, sie nahmen uns die Luft zum Atmen. Doch das sollte nicht mehr lange so sein.
Meine Freunde und ich hatten uns dem Dada verpflichtet. Hugo Ball, den ich zu meinen Freunden zählte, hat den Dada 1916 in Zürich ins Leben gerufen, der Krieg war noch in vollem Gange. Beteiligt daran war noch eine Handvoll weiterer Künstler – neben mir selbst –, allesamt Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer. Damit legte er den Grundstein eines öffentlichkeitswirksamen Protestes gegen den Krieg und die autoritäre Obrigkeit. Er war wie ich in die Schweiz geflüchtet, um sich dem sinnlosen Krieg zu entziehen. Dort gründete er zusammen mit seiner Freundin und späteren Frau Emmy Hennings das Cabaret Voltaire, dieses bot vielen jungen Künstlern eine Bühne. Hier wurde der Dada auch zum ersten Mal dem Publikum dargebracht.

Man hört dieser Tage viele Gerüchte über die Entstehung des Namens „Dada“. Hugo Ball selbst sagte, dass er ein Messer in ein französisches Wörterbuch gestochen habe und zufällig beim Wort Dada landete, was zu deutsch Steckenpferd heißt. Von anderer Seite hört man, dass dies nur ein gut erzähltes Märchen darstelle und er sich einfach nur des Namens eines Schweizer Haarwaschmittels bedient habe. Es gibt noch andere Erklärungen, genau weiß das aber wohl nur Hugo Ball selbst.
Der Dada wurde in Zürich geboren und verbreitete sich wie ein Lauffeuer nach Berlin, Hannover, Köln, Paris und sogar New York. In den USA fand er allerdings keine wirkliche Akzeptanz, was womöglich auf die europäische Herkunft zurückzuführen war. In Berlin dagegen wurde er am stärksten ausgelebt und brachte einige völlig neue Kunstformen wie die Fotocollage und das Lautgedicht hervor. Es dauerte nicht lange, bis wir den Club Dada in Berlin eröffneten, welcher als äußerst exklusiv galt. Auch die erste internationale Dada-Messe fand hier statt. Dort konnten wir uns mit Dadaisten aus anderen Ländern auszutauschen, unabhängig von gesellschaftlichem Stand oder politischen Ansichten. Unser gemeinsames Ziel war es, alles Bisherige in Kunst und Literatur umzustoßen.
Die Sprache wurde durch die Lügen derer, die den Krieg zu verantworten hatten, ebenso wie durch die Presse misshandelt und beschmutzt, also entwarfen wir unsere eigene Sprache. Die bisherige Kunst erinnerte an die Zwänge, denen wir unterlagen. Wir
sagten uns:
Weg damit!
Lasst uns frei von allen Fesseln kreativ sein!
Lasst uns Antikunst kreieren!
Lasst uns der Gesellschaft, die blind der Obrigkeit folgt, den Spiegel vorhalten, um ihnen ihre eigene Lächerlichkeit aufzuzeigen!
Wir müssen Neues, noch nie Dagewesenes erschaffen und immer wieder neu kombinieren und mischen. Der Zufall darf entscheiden, welche Gestalt unsere Kunstwerke annehmen, beispielsweise in wild durchmischten Textgebilden. Wir entkoppelten die Wörter von ihren alten Bedeutungen und fügten sie neu zusammen, die Hauptsache war, dass es sich gut anfühlte.
Wer den Mut dazu hatte, durfte seine kleinen Kunstwerke, zum Beispiel Lautgedichte, wie sie von Hugo Ball, ihrem Erfinder, genannt wurden, auf einem unserer Dada-Abende vortragen. Dies durfte gerne auch von mehr als einer Person gleichzeitig geschehen, als Simultangedicht rezitiert – ein akustisches Feuerwerk! Hugo Ball trug seine Gedichte gerne in Kostümen vor, die er auch einmal aus Karton selbst gebastelt hatte. Wir wollten provozieren, wie es nie jemand vor uns gewagt hatte. So wurde das Publikum bei unseren Aufführungen aufs Gröbste beschimpft, was nicht selten in Tumulten endete.

Selbst Kaiser Wilhelm II. war nicht sicher vor unserer Provokation, so erstellten wir beispielsweise Fotocollagen aus Frauenkörpern, die den Kopf vom Kaiser oder von einfachen Soldaten trugen. Einer meiner Kollegen, Marcel Duchamp, sorgte für Aufruhr, als er 1917 ein mit seinem Künstlernamen signiertes und auf den Kopf gestelltes Porzellan-Pissoir bei einer New Yorker Kunstausstellung einreichte. Mit dieser Aktion wollte er aufzeigen wie unfrei die angeblich doch so freie Kunst immer noch war. Es überraschte nicht, dass das Museum die Annahme verweigerte.

Es war eine wilde Zeit, eine Zeit des Umbruchs. Wir lehnten es ab, unsere Kunstschaffen als Dada zu bezeichnen und schon gar nicht als Dadaismus, da es damit in die Reihe anderer künstlerischer Strömungen eingereiht worden und somit in einer musealen Bedeutungslosigkeit verschwunden wäre. Wir wollten überhaupt keine Parallele zum Alten, das war ja gerade unser Gründungsethos. Sobald sich gewisse Techniken und Vorgehensweisen zu etablieren schienen, mussten sie sofort wieder eingerissen und etwas Neues kreiert werden. Die ständige Suche nach Neuem war das, worauf es uns ankam.